ICH WILL ZEUGNIS ABLEGEN



Aus den Tagebüchern Victor Klemperers


Reise in eine versunkene Stadt

»Nicht nur das Wort unmöglich ist außer Kurs geraten, auch unvorstellbar hat keine Gültigkeit mehr«, notierte Victor Klemperer am 18. März 1945 in sein Tagebuch.

33 Tage zuvor war die Stadt, in der er seit 25 Jahren lebte und wirkte, dem Bombenkrieg zum Opfer gefallen. Klemperer versuchte, sie in seinen Tagebuchnotizen festzuhalten, dem Versinken zu entreißen, so wie er es mit allem, was ihm begegnete, Zeit seines Lebens gehalten hatte.


Es liest HANNS-JÖRN WEBER

Künstlerische Leitung: STEPHAN REHER


Eine Veranstaltung des Staatsschauspiel Dresden.


Eng ist der Lebensweg dieses bedeutenden jüdischen Romanisten und Sprachwissenschaftlers mit dem Schicksal der Stadt Dresden verknüpft.

1920 als Professor an die hiesige Universität berufen, erlebte Victor Klemperer Glanz und Elend Dresdens auf ganz persönliche Weise. Er, der sich als deutscher Staatsbürger seinem Lande tief verbunden fühlte, erfuhr als Jude während der Zeit des Dritten Reiches die unerträgliche Demütigung der Ghettoisierung in Physis und Psyche. Dresden, der Ort seines wissenschaftlichen Erfolges, wurde in diesen Jahren für ihn ein Ort des Grauens. In seinen Tagebüchern sammelte er diese Erfahrung in einer großen Chronik aus Zeit- und Lebensgeschichten.

Unsere »literarische Busfahrt« folgt diesen Spuren. In einem Kraftomnibus der Marke Büssing NAG 900 N (Baujahr 1938) führt die Fahrt zu jenen Plätzen und Straßen, die an Victor Klemperer und die am 13. Februar 1945 versunkene Stadt erinnern.

HANNS-JÖRN WEBER liest aus den bewegenden Aufzeichnungen eines Menschen, der trotz der zum Alltag gewordenen tödlichen Gefährdung mit verzweifeltem Mut ums Überleben rang.

PRESSESTIMMEN





Wie eine Blütenstadt in den Abgrund sinkt.

Auf den Spuren Victor Klemperers durch Dresden.

Endlich ist er wieder da, ist sogar der Star eines theatralischen Ereignisses. Jahrzehnte stand er nur herum. Und nun, am Donnerstag abend, darf er wieder über Dresdens Straßen rollen. Der Bus, Jahrgang 1938, brummt laut auf. Die Insassen - die meisten jung, unter 30 - lächeln. "Was für Geräusche", sagt jemand.

Was da stattfindet am historischen 13. Februar, ist keine gewöhnliche Tour zu den Sehenswürdigkeiten Dresdens, sondern eine literarische Busfahrt, organisiert vom Staatsschauspiel. Der Mime Hanns-Jörn Weber liest aus dem Werk Victor Klemperers. Gehalten wird an Orten, die der Romanist in den Tagebüchern beschrieben hat. Erste Station ist das Elbufer. Träge wälzt sich der Fluß dahin. Genau wie im Jahre 1920. Klemperer zog nach Dresden, um an der Universität zu lehren. "Haupteindruck: die schönste Blüten-, Frühlings-, Villenstadt. Ein Entzücken an Kultur, Festlichkeit Gärten", notierte er.

Der Bus rumpelt in Richtung Universität. Autos, Ampeln, Kaufhäuser. "Wie schnell sich Dinge und Denken ändern", liest Hanns-Jörn Weber gerade eine Notiz von 1930 vor. "Immer? Oder nur gerade jetzt?" Die Worte holen Klemperer schnell ein. "Erstaunlich, wie wehrlos alles zusammenbricht", schreibt er im März 1933. Fackelzüge durch die Stadt, Aufrufe zum Boykott jüdischer Geschäfte. "Die Dresdner Studentenschaft gab heute Erklärung ab: geschlossen hinter ... und es ist gegen die Ehre deutscher Studenten, mit Juden in Berührung zu kommen." Im Bus lacht niemand mehr über das Gefährt, das Klemperer ab 1941 nicht benutzen durfte. Arbeiten ist ihm verboten. In seinem Haus darf er nicht mehr wohnen. Kino ist untersagt, ebenso Straßenbahnfahren. Dann Verhaftungen, Verhöre.

Die Notizen, die Buchstaben werden durch die Darbietung Webers nicht nur lebendig, sondern beklemmend. Eine Stadt gleitet in einen Abgrund aus Unbarmherzigkeit, Feigheit schweigendem Ertragen. "Immer? Oder nur gerade jetzt?"

In der Ferne die Kirchenglocken. Das alljährliche Glockengeläut zum 13. Februar. Die Tour endet vor dem Theater. Klatschen. Dann aber sind alle ganz stumm. Die Menschen, und auch der Bus.
Sächsische Zeitung, 16.Februar 1997


LITERARISCHE FAHRT IN EINE VERSUNKENE STADT.

Und das am 13. Februar: Als Dresdner unter Glockengeläut dem Leid gedachten, das andere ihnen und ihrer Stadt vor 52 Jahren zugefügt hatten, zuckelte ein alter Büssing NAG 900N (Baujahr 1938) durch die Stadt, um mit einer "literarischen Busfahrt" auch auf das Leid hinzuweisen, das der jüdische Literaturprofessor Victor Klemperer in Sachsens selbstgefälliger Ex-Residenzstadt während des Dritten Reiches auch von Dresdnern zugefügt bekam.

Erfahrungen durch er-fahren: Dresdner Lebens- und Schicksalsstationen Klemperers im Original-Bus er-fahren, den Klemperer mit großer Wahrscheinlichkeit früher wirklich benutzt hatte - dies macht das Wesen der vom Staatsschauspiel, den Verkehrsbetrieben und dem Verkehrsverbund Oberelbe realisierten literarischen Busfahrt "Ich will Zeugnis ablegen" aus.

Texte aus den Tagebüchern Victor Klemperers (Künstlerische Leitung: Stephan Reher; Dramaturgie: Beate Seidel), lebendig, alltagsverbunden und ohne jedes falsche Pathos gelesen von Hanns-Jörn Weber, wurden kontrastiert mit ehemaligen Orten aus dem Leben Klemperers. Nicht das bloße Hineinfühlen in geschichtliche und biografische Authentizität, sondern gerade der ständig präsente Bezug zu Gegen-wärtigem unterscheidet dieses Klemperer-Projekt von thematischen Stadtrundfahrten à la "Auf den Spuren von ..." Biografisches wird zu Kunst erhoben - aber die Kunst ist gezwungen, sich in den heutigen Alltag einzuordnen: Ampel-Rot blockiert die Fahrt, laut vor-überrollende LKWs erschweren das Textverständnis, beschlagene, regentropfenbelegte Autobusscheiben hemmen den Durchblick: Klemperer heute hat ganz bewußt nichts Museales.

Finanzministerium mit Blick über die Elbe auf Prunk-Dresden und Gedenkdemo, Pirnaischer Platz, Franz-List-Platz (dem ehemaligen Bismarck-Platz, wo Klemperer allererste Eindrücke von der Dresdner Hochschule empfangen hatte), Münchner Platz mit dem damaligen Landesgericht, Caspar-David-Fried-rich- und dann Zeughausstraße (wo die "Judenhäuser" standen, in denen der Professor zwangsweise untergekommen war), schließlich Theaterplatz und zurück zum Schauspielhaus - Fahrtroute, Text-auswahl und Lesekunst ließen ein vielschichtiges Stadt-Bild und ein Klemperer-Porträt gleichermaßen entstehen. Und während überelbisch hinterm Terrassenufer der Opfer des Terrors am 13. Februar gedacht wurde, ließ Hanns-Jörn Weber Klemperers Notizen vom prallen, prachtvollen, frohen, gelassenen Leben im früheren Dresden auferstehen. Dresden als lebendige, blühende Stadt - damals ganz im Gegensatz zum "versteinerten München". Ein Kontrast auch im Kontrast. Angesichts dieser Not Klemperers spüren Theater-Fahr-Gäste nicht nur den durch Bomben und Krieg zugefügten Verlust, sondern auch die hoffnungslose Ödnis des heutigen innerstädtischen Lebens, einer Ödnis, die nun vor gesichtslosen Graubauten und nachts nahezu menschenleeren zugigen Flächen geprägt ist. Station für Station verschieben sich Bilder, Stimmungen, Erfahrungen und Er-fahrenes. In dem Maße, wie die persönliche Lage Klemperers immer beklemmender wird, er-fahren Büssing-Insassen "ihre" Stadt, spüren mehr und mehr deren historische Befremdlichkeiten, die Bedrohungen, die auch in diesem Elbflorenz lauer(te)n.

Klemperer aktuell, die literarische Busfahrt durch Dresden bietet viele Anregungen, läßt Assoziationen freien Raum. Als Victor Klemperer angesichts des in Schutt und Asche gelegten Dresden im März 1945 notierte, daß "nicht nur das Wort unmöglich außer Kurs geraten" sei, sondern auch "unvorstellbar keine Gültigkeit" mehr habe, meinte der Sprachkenner die grauenhafte Realität. Mit einer Lebensgeschichte macht nun das Dresdner Staatstheater Geschichte und Leben wieder vorstellbar.
Dresdner Neueste Nachrichten, 16. Februar 1997


Die Vorstellung ist nach wie vor im Spielplan des Staatsschauspiels
(inzwischen über 150 Vorstellungen).

Vorstellungstermine finden Sie entweder in meinem SPIELPLAN, oder auf der Website des STAATSSCHAUSPIEL DRESDEN. Beim Staatsschauspiel können Sie dieses Programm auch als geschlossene Vorstellung buchen (Der Bus hat 24 Sitzplätze).